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Die Diskussion um das Buch von Hr. Sarrazin

 

Im Zuge des Buches von Sarrazin „Deutschland schaft sich ab“ und seiner Äußerungen in diversen Interviews kommt eine Diskussion in Gang, die viel von dem aufzeigt, was hierzulande schiefläuft.

Dabei ist die Verlogenheit der Sarrazinschen Äußerungen schon anhand ganz einfacher Zahlen zu belegen.

Trotz dieser Fakten rollt aber eine fremdenängstliche Diskussion durchs Land, die zunehmend an Eigendynamik gewinnt – und zwar offenkundig in eine ungute, weil zerstörerische  Richtung gehend. Vor Allem ist zu beobachten, dass im Rahmen dieser Diskussion vermehrt Thesen vertreten werden, die jede für sich zwar falsch sind, die aber dennoch an Zustimmung gewinnen - einfach weil sie nicht wirklich hinterfragt werden. Dass ihr wahrer Zweck darin besteht, die Aggressionen von den wahren Missständen abzulenken, wird dabei in der Regel gar nicht wahrgenommen. Im folgenden seien einige dieser Thesen untersucht:

Und was haben diese Diskussion und diese Thesen mit der sich abzeichnenden Gesellschaftskise zu tun, welche ja das eigentliche Thema von krisendoku.de ist?

Gar nichts. Tatsächlich: Gar nichts. Eigentlich.

Sie haben allerdings insofern doch damit zu tun, als dass sie einen weiteren Schritt hin zur allgemeinen Verwirrung darstellen, die im Zuge der Krise um sich greift.

Der Punkt ist nämlich wie gesagt der, dass es sich um eine Pseudodiskussion handelt, um eine Blase. Pünktlich im Vorfeld einer der wahrscheinlich größten Krisen der letzten Jahrzehnte wird sie vom Zaun gebrochen, um von den wahren Missständen – dem betrügerischen Geldschöpfungssystem, das wir unser Wirtschaftssystem nennen – abzulenken. Selbst wenn am nächsten Dienstag alle Migranten das Land  gleichzeitig verlassen würden, wäre kein einziges der wahren Probleme dieses Landes gelöst. Stattdessen würde hier wahrscheinlich alles zusammenbrechen. Das Ganze ist eine Inszenierung, ein Spiel.

Sarrazin selbst spielt in diesem perfiden Spiel eine traurige Marionette, die beides gleichzeitig ist: Lügner und Versager.

Lügner deshalb, weil er bei seiner ganzen Flut von Statistiken die wichtigsten Zahlen übergeht (vgl. oben). In diesem Falle hat das ganz offensichtlich nichts mit Nachlässigkeit zu tun, sondern mit bösartiger Faktendreherei – sprich: Lügerei. Er tut das, indem er an jene Haltung appelliert, die auch schon früher in dieser Gesellschaft Hochkonjunktur hatte: Nach oben buckeln – nach unten treten. Anders gesagt: Man tritt auf den, der es noch schwerer hat als man selbst, um sich nicht mit denen da oben anlegen zu müssen. Da glaubt man dann allzu gerne die seltsamsten Dinge.

Versager deshalb, weil er seinen eigentlichen Job als Bundesbanker nicht bewältigte, der darin bestanden hätte, eben jene Missstände im Finanzsystem aufzudecken und womöglich zu beheben, die die wahre Ursache dessen sind, was die Menschen in diesem Lande unzufrieden macht. Das wäre echte Zivilcourage gewesen.

 

 

Zu den Thesen:

 

1. These: „Politische Korrektheit ist Meinungsdiktatur“

Diese Äußerung hört man in einschlägigen Diskussionen sehr häufig. Gemeint ist damit in der Regel, dass „ehrliche Worte“ und „aufrichtige Äußerungen“ durch eine „Diktatur der Schönschwätzer“ und „Weicheier“ (damit sind natürlich Sarrazin-Gegner gemeint) verhindert werde. Gerne gibt man sich dann betont politisch unkorrekt. Zitate wie die folgenden – willkürlich irgendwelchen Forums-Diskussionen im Internet entnommen (es gäbe abertausende weiterer Beispiele, das Netz ist voll damit) – werden in diesem Sinne dann auch noch beklatscht:

„Es wird Zeit das wir endlich mal durchgreifen!

Wenn diese nutzlosen Wilden den Islam und Koran so toll finden, dann sollten WIR ihn anwenden. keine Sozialstunden für U-Bahnschläger, Räuber und sonstiges Gesocks. Gleich steinigen, Foltern, verbrennen, vierteilen.....

Achne geht ja garnicht.... In Gegensatz zu diesen unterentwickelten Inzuchtrudeln sind wir deutsche nämlich zivilisiert, WIR sind Menschen!!!“

Oder:

Allah is Fuckbar ja.... Du wirst deine Döner auch noch los.... mach dir keine Sorgen um deine Zukunft, denn Sie wird blutig enden, wenn Du später nicht freiwillig unser Vaterland verlässt ;-) Noch was, ich weis ja nicht zu welcher abschaumigen Menschenrasse Du gehörst, aber Du bist auch nichts weiter als ein genetisches Abfallprodukt aus Kamelscheiße und Atommüll...“

Usw..

Auch abgesehen von der mangelhaften Rechtschreibung dieser selbsternannten „guten Deutschen“: Man könnte über solche Äußerungen lachen oder sie als Zeichen sexueller oder anderweitiger privater Frustration verstehen - sowie als Beleg dafür, dass das Volk der Dichter und Denker tatsächlich schon recht verblödet ist, und zwar ganz aus eigener Kraft, ohne jegliches Zutun irgendwelcher Migranten. Dennoch sind sie symptomatisch: Die politische Unkorrektheit wird da als heroischer Kampf für die Meinungsfreiheit zelebriert – gegen den erklärten „Freiheitsfeind politische Korrektheit“.

Nun ist es ja tatsächlich so, dass der Begriff „politische Korrektheit“ ziemlich bescheuert klingt. Irgendwie trocken und langweilig. Dennoch ist das, was er zu bezeichnen versucht, kein bisschen überflüssig, sondern überaus wichtig. Man könnte diesen Begriff auch durch „respektvollen Umgang“ ersetzen. Oder meinetwegen auch durch „gutes Benehmen“. Und diese Dinge sind in einer Gesellschaft definitiv nichts überflüssiges oder gar schädliches.

Ganz im Gegenteil: Die Integrität – oder die Würde – eines Menschen zu respektieren, obwohl man seine Ansichten nicht teilt, ist kein Zeichen von Schwäche oder von Unfähigkeit, sondern eine Selbstverständlichkeit in jeder funktionierenden Gemeinschaft – sei diese Gemeinschaft eine Familie, eine Schulklasse, ein Gesangsverein oder eben eine ganze Nation. Ich scheiße in einem Restaurant ja auch nicht auf den Tisch, weil mir das Essen nicht geschmeckt hat.

 

Und nicht umsonst lautet  Artikel 1 des Grundgesetzes:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Und zur Meinungsfreiheit heißt es dort (Artikel 5):

Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. 

Aber auch:

Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

Da stellt sich dann ganz schnell die Frage, ob Äußerungen wie die oben zitierten (oder etwa auch die Ansicht des Herrn Sarrazin, dass es ein Gen gäbe, das die Intelligenz und andere Qualitäten festlegt, und dass diese Gene nach Nationalitäten über die Welt verteilt wurden), gegen diese beiden Grundrechte verstoßen: menschliche Würde und persönliche Ehre.

Nein, es geht hier nicht um Paragraphenreiterei. Es geht vielmehr um den Sinn derartiger Gesetze – und darum, an welcher Stelle ihre Missachtung Schaden anrichtet. Und um diesen Sinn zu begreifen und wertzuschätzen brauche ich gar nicht weit zu schauen:

Ich wuchs selbst als „Ausländer“ auf – als Deutscher im Ausland nämlich. Ich erinnere mich sehr genau, dass ich damals auch immer wieder mit Vorurteilen über die Deutschen konfrontiert wurde - nicht oft, aber eben hin und wieder - , und ich erinnere mich auch sehr genau daran, welche Wirkung das damals auf mich hatte: Ich fühlte mich bei den Haaren gepackt und in einen Topf gesteckt. Mir wurden Eigenschaften angedichtet, die nicht auf mich zutrafen – stets untermalt mit „Statistiken“, angeblichen „historischen Fakten“ und ähnlichem Gedöns. Dessenungeachtet, dass all diese Dinge auf mich nicht zutrafen, drängte mich das in eine Ecke, in der es mir schwerfiel, ich selbst zu sein (und als junger Mensch ist man da noch empfindlicher). Was mich traf, waren nicht die Vorurteile als solche (denn sie stimmten ja sowieso nicht), sondern die Tatsache, in dieser Situation nicht als Mensch sondern als Angehöriger irgendeiner schwammigen Gruppe wahrgenommen zu werden. Automatisch errichtete ich dann (und sei es aus Trotz) Grenzen in mir, die „die Deutschen“ von „den Anderen“ trennten - ungute Identifizierungen. Worte können Waffen sein!

Im Nachhinein kann ich sagen: Ja, da wurde die menschliche Würde angetastet.

In jedem (jungen) Türken, der sich die aktuelle Diskussion anhören muss, wird genau dasselbe vorgehen. Ich kann es wie am eigenen Körper nachempfinden – und ehrlich gesagt schäme ich mich (als Bewohner dieses Landes) dafür. Die Folgen, die das alles haben wird, sind bereits jetzt absehbar: Integrationbereitschaft wird dadurch nicht gefördert. Wahrscheinlich ist es sogar so,  dass vermeintlich mangelndes Engagement vieler Migranten in Deutschland auf zurückliegende ähnliche Diskussionen zurückzuführen ist.

Fazit: Respektvoller Umgang - politische Korrektheit - ist notwendiger denn je. Sie heißt nicht, dass man nicht kontrovers miteinander kommunizieren kann – sondern ganz im Gegenteil: Sie ist die Basis, damit produktive Auseinandersetzungen überhaupt stattfinden können. Alles andere ist Brandstiftung.

 

2. These: „Der Islam ist eine aggressive Religion. Entsprechend sind Moslems zu behandeln“

Auch dieser Meinung begegnet man in letzter Zeit immer häufiger. Ich würde dieser These sogar zustimmen, allerdings mit einer wichtigen Ergänzung: Genau das trifft auf ausnahmslos alle Religionen der Welt zu - zumindest, wenn man sie beim Wort nimmt!

Natürlich kann man im Koran zweifelhafte Formulierungen finden, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Mal abgesehen von Übersetzungsfehlern und sonstiger Wortverkrüppelung: Derartige Dinge finde ich aber in der Bibel genauso. Das gesamte Alte Testament ist ein einziges menschenverachtendes, rassistisches Blutbad, von dem ich froh bin, dass es Geschichte ist.

Und umgekehrt genauso: In jeder Religion gibt es auch ethische Grundsätze, die von großer Respektabilität und Tiefe sind – egal ob im Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus oder Buddhismus. Aber nicht weil es religiöse Prinzipien sind, sondern menschliche.

Würde man sich nun auf einen Wettbewerb einlassen, welche Religion denn die bessere sei (und bei praktisch allen Kriegen der Welt spielen solche Fragen eine Rolle), dann endet es bestenfalls damit, dass man sich gegenseitig Zitate aus den jeweiligen Lehren an den Kopf wirft, die das Eine oder das Andere belegen sollen. Schlimmstenfalls (und so endet es leider meistens) wirft man sich nicht Zitate an den Kopf sondern Bomben. Und genau auf dieses Spiel steuern diese sogenannten „Islamgegner“ hin.

Natürlich gibt es Misstände, die man eher in islamischen Kreisen antrifft. Etwa die Behandlung vieler Frauen oder sogenannte „Ehrenmorde“. Für diese Dinge gibt es aber eine ganz sachliche Handhabe in dieser Gesellschaft. Da braucht man nicht ein ganzes Volk in Sippenhaft zu nehmen.

Und ganz nebenbei: Es gibt auch Dinge im Islam, deren Befolgung auch segensreich für die eingeborene deutsche Bevölkerung bzw. für die Gesellschaft insgesamt wären. Z.B. : Moslems saufen nicht. Dies von unserer Gesellschaft als positiver Impuls verstanden und angenommen würde abertausende Verkehrsunfälle, Fettlebern und kaputte Familien in diesem Lande verhindern.

Nein. Es geht nicht um die Religion. Sie ist nur ein Aufhänger jener Menschen, die Schubladen und Gleichschaltung benötigen. Mir ist es egal, welcher Religion ein Mensch angehört - zählen tut nur, wie er mir entgegentritt. Wer die Sippenhaft für ganze Religionen ausruft, dokumentiert damit vor Allem seine eigene Verbiesterung, denn er zeigt, dass er in Kategorien von Gleichschaltung und Gruppenzugehörigkeit lebt. Er ist ganz offensichtlich unfrei.

An dieser Stelle sollte man noch auf das in diesen Diskussionen immer wieder gerne gebrachte Argument eingehen, wonach "die Migranten" unsere Sozialsysteme und das deutsche Volk insgesamt ausplündern würden. Tatsache ist: Es gibt ganz gewiss Fälle von derartigem Missbrauch - sogar solche, die spezifisch von Migranten begangen werden, etwa im Rahmen von Familienzusammenführungen. Sie sind aber bei weitem nicht die Mehrheit. Und selbstverständlich können derartige Dinge auch ohne die Zündeleien eines Sarrazin strafrechtlich und sonstwie verfolgt werden, und werden es meines Wissens auch.

Es ist doch wohl völlig offensichtlich, dass der Missbrauch des Gemeinwesens keine islamische Spezialität ist. Es gibt auch unter den Deutschen jede Menge Menschen, die nur auf ihren persönlichen Vorteil schauen und nichts für das Gemeinwesen tun - und die sich dennoch für "anständige Deutsche" halten. Z.B. ist, soviel ich weiß, Steuerhinterziehung ein deutscher Volkssport - und man braucht sich ja nur den Grenzverkehr nach Liechtenstein und in die Schweiz anzuschauen, um zu wissen, was da wirklich los ist.

Mit einem "aggressiven" Islam, der das deutsche Volk aussaugen und zerstören möchte, hat das alles dann auch gar nichts zu tun. Sehr viel dagegen mit dem zutiefst menschlichen und in jedem Kulturkreis vorhandenen Bedürfnis, aus den gegebenen Möglichkeiten für sich und die eigene Familie die größtmöglichen Vorteile zu ziehen.  Mir wäre eher unheimlich, wenn es solche Fälle (ungerechtfertigter Inanspruchnahme der sozialen Systeme durch Migranten) nicht gäbe - dann würde ich mich nämlich wirklich fragen, ob das nicht alles religiöse Fanatiker sind, die sich hier als die moralischen Weltverbesserer aufspielen möchten.

 

3. These: „Deutschland muss sich aus den Fesseln seiner Geschichte befreien“

Damit ist im Rahmen besagter Diskussionen in der Regel gemeint, dass man sich als Deutscher doch nun endlich wieder selbstbewusst äußern dürfe, und sich nach so vielen Jahrzehnten nicht immer noch vor der Nazi-Kriegsverbrecher-Knute zu ducken brauche. Eingesetzt wird diese Ansicht vor Allem zu dem Zweck, jede abfällige  Äußerung über Nicht-Deutsche zu rechtfertigen, indem jede Kritik daran als ein Bückling vor der unrühmlichen deutschen Vergangenheit abgetan wird. Kurzum: Man dürfe nun endlich wieder nach Herzenslust auf Türken und Juden schimpfen, und wer da nicht mitmache, sei ein Geschichts-Weichei.

Auch in scheinbar seriöserem Tonfall wird oftmals dasselbe behauptet: Deutschland sei durch seine Vergangenheit gereift. Aus diesem Grunde brauche man sich nicht mehr durch diese Vergangenheit gedemütigt fühlen.

Beides ist gleichermaßen Schmonzes.

Tatsache ist, dass ich mich noch nie durch die Vergangenheit meiner Vorfahren in irgendeiner Weise gedemütigt fühlte oder genötigt, dies oder jenes zu tun oder zu unterlassen – geschweige denn zu denken. Ich lebe jetzt. Ich bin frei. Ich bin nicht mein Opa. Ich bin noch nicht einmal mein Bruder. Und so wenig, wie ich andere Menschen durch Sippenhaft gleichschalte, so wenig lasse ich mich gleichschalten und in Sippenhaft nehmen. Dennoch wäre ich dumm, mir nicht die Fehler meiner Vorfahren gründlich anzuschauen, um daraus zu lernen. Nicht, weil ich ihr „Erbe“ bin oder sonst irgendeine dubiose „Verantwortung“ trage, sondern einfach deshalb, weil ich etwas für mich selbst daraus lernen kann.

Offensichtlich geht das anderen Menschen hierzulande aber anders, denn sonst würden sie sich nicht genötigt fühlen, so etwas zu sagen. Sie fühlen sich anscheinend der Geschichte verpflichtet wie der Sklave dem Herrn. Auch in diesem Punkt dokumentieren diese Diskutanden, dass sie selbst in Kategorien von Unfreiheit und Gleichschaltung denken, denn wer frei ist, braucht nicht dauernd mit spitzem Zeigefinger darauf zu pochen. Von Demokratie und der Würde des Menschen haben diese Leute dann auch nicht viel verstanden. Von Selbstverantwortung schon gar nichts.

Die Menschen in diesem Land haben tatsächlich die Chance zu zeigen, dass sie aus den Fehlern ihrer Vorfahren gelernt haben, und nun fähig sind, eine reife Gesellschaft aufzubauen. Allein, wenn ich mir diese Diskussion (und Zitate wie die obigen) anschaue, dann kommen da ernsthafte Zweifel auf. Tatsächlich besteht  genauso die Möglichkeit, dass die Deutschen als die allergrößten Deppen der Menschheitsgeschichte ins Guinness-Buch der Rekorde eingehen: als Esel, die denselben Fehler immer und immer wiederholen – jenen Fehler nämlich, der darin besteht, sich durch Scheindiskussionen wie diese von den wahren Missständen ablenken und verheizen zu lassen. Ich würde sagen, die Chancen stehen 1:1.

 

4. These: „Multikulti hat versagt“

Eine ganz beliebte, geradezu modische Behauptung, die allerdings völlig an der Realität vorbeigeht. Tatsache ist nämlich: Diese kleine, Kugel, die wir „Erde“ nennen, wird von den unterschiedlichsten Kulturen besiedelt. Sie ist per se „multikulti“ – und es ist nicht absehbar, dass sich daran je etwas ändern wird.

Das, was viele dieser Sarrazin-Diskutanden meinen, ist dann allerdings auch etwas ganz anderes: Sie meinen damit, dass verschiedene Kulturen offenbar nur dann miteinander auskommen können, wenn sie räumlich voneinander untergebracht sind. Am Besten auf Inseln oder so. Sie meinen, es sei nicht möglich, dass Menschen, die unterschiedliche Lebensweisen pflegen, dennoch friedlich miteinander leben können (ich frage mich da auch, wie diese Leute mit ihren Kindern umgehen, wenn die ihren eigenen Weg gehen möchten, aber das würde hier zu weit führen).

Gemünzt auf Deutschland und diese Diskussion meinen sie dann im Prinzip auch, dass „Multikulti“ nur dann funktionieren würde, wenn die Migranten alle ihre mitgebrachten Denk- und Lebensweisen ablegen würden, und womöglich nur noch  Sauerkraut essen und Schunkellieder singen würden. Hier tritt er wieder zutage: Der unbedingte  Drang dieser Leute zu Gleichschaltung und Gruppenidentifikation.

Spannend ist in diesem Zusammenhang auch, zu beobachten, dass die meisten Ressentiments gegen "Ausländer" gerade bei jenen Menschen zu finden sind, die am wenigsten direkten Kontakt mit ihnen haben - an jenen Orten also, wo die wenigsten Migranten leben: etwa in den neuen Bundesländern und ländlichen Gebieten Westdeutschlands. Das kann ich in der großen Öffentlichkeit genau so beobachten wie in meinem engsten Verwandten- und Bekanntenkreis. Eigentlich sagt das bereits alles.

Nein, Multikulti hat nicht versagt, sondern es lebt.

 

Ich lebe hier seit 25 Jahren in einem Stadtteil Berlins, der einen besonders hohen Migrantenanteil besitzt. Sowohl im ganzen Viertel als auch in der Straße und auch im Haus gehören Menschen türkischer Abstammung zu meinem Alltag. Sie sind meine Nachbarn. Und ich muss sagen: Ich habe sie gerne als Nachbarn!

Dazu ein Beispiel: Es gibt hier einen Platz, der bis vor einigen Jahren ziemlich desolat und düster war. Eigentlich tummelten sich dort nur irgendwelche Alkoholiker herum (irgendein Spaßvogel stellte dort sogar einmal ein täuschend echtes Straßenschild auf mit der Aufschrift: „Harald-Juhnke-Platz“ – nach jenem Berliner Schauspieler, der seinen Alkoholismus aufs peinlichste zelebrierte), ansonsten war dieser Platz tot.  Bis irgendwann eine Eisdiele dort aufmachte. Der Besitzer hängte Luftballons auf, hielt den Ort sauber, stellte Blumenkübel auf. Der Platz veränderte sich. Von diesem Tag an entwickelte sich der Ort zu einem echten Treffpunkt des Viertels: jung und alt, krank und gesund, männlich und weiblich – türkisch und deutsch. Bald darauf machten weitere Cafes und Restaurants dort auf, und heute ist die Situation die, dass der Platz in jedem Reiseführer als besonders liebenswerter Ort verzeichnet ist.

Warum ich das beschreibe? Der, der den ersten Schritt wagte und das Risiko einging, diese Eisdiele zu eröffnen, ist ein Deutschtürke. Wahrscheinlich hätte kein eingeborener Deutscher an solch einem Ort solch einen Schritt gewagt. Zu ängstlich. Zu wenig Profit hätte gewinkt.

Tatsächlich verdanke ich den Migranten einen großen Teil meiner Lebensqualität: Der hervorragende Bäcker, der 24 Stunden geöffnet hat, die Gemüseläden, die Schneiderin, der Lebensmittelladen, das Fischgeschäft. Gäbe es diese Menschen nicht, gäbe es diese Läden auch nicht – und ich müsste, wie die Bewohner anderer Stadtteile, in irgendwelchen gesichtslosen Einkaufszentren einkaufen. Halten können sich diese Läden nur deshalb, weil da die ganze Familie mithilft und keine großen Sprünge gemacht werden. Womöglich haben diese Leute alle keine Berufsabschlüsse - ganz so, wie es uns die neunmalklugen Statistiken des Herrn Sarrazin darlegen - und dennoch sind sie oft fleißiger und wirken segensreicher in der Gesellschaft als so mancher Deutsche mit Hochschulabschluss. Und übrigens sprechen sie alle fließend Deutsch - zwar haben sie oft einen fremdartigen Akzent, aber das ist bei den Bayern ja nicht anders.

Es gibt noch weitere Dinge, die ich an meinen türkischen Nachbarn schätze. Alles Kleinigkeiten, die sich aber durchaus summieren:

Dem sollte ich womöglich noch hinzufügen, dass das Viertel, in dem ich wohne, jener Teil der Stadt mit den höchsten Mietsteigerungen ist. Neuvermietungen erreichen inzwischen sogar Spitzenmieten – so es denn überhaupt freie Wohnungen gibt. Nicht, dass ich das gut fände, aber es zeigt doch, dass es hier so schlimm nicht sein kann. Allen Klischees aus der allgemein zugänglichen Presse zum Trotz ist dies kein in Kriminalität und Hammelblut erstickendes Viertel. Ganz im Gegenteil.

Für mich sind die Migranten nichts, was ich "dulden" müsste, sondern eine Bereicherung des Alltags. Punkt.

 Vielleicht wird man auch in Deutschland irgendwann so weit sein, dass die Namen „Özdemir“ und „Özil“ so selbstverständlich in diese Gesellschaft gehören wie andere, nicht urdeutsche Namen; so wie „Lafontaine“, „Wischnewski“, „Hayek“, "Podolski" – oder auch: „Sarrazin“.

Falls nicht, dann gibt es ja glücklicherweise auch zivilisierte Länder, Länder also, in denen man auch als Ausländer würdevoll leben kann. Oder anders ausgedrückt: Ich bin keiner, der im Schweinestall lebt, und dann ständig die Schweine davon zu überzeugen versucht, doch bitte nicht zu stinken. Oder noch anders: Wenn Deutschland Gleichschaltung bedeutet, dann wechsle ich eben das Land.

 

 

Anmerkung: Dieser Text unterliegt ausdrücklich nicht dem Urheberrecht, sondern darf nach Belieben vervielfältigt, verbreitet, verlinkt, übersetzt und zitiert werden.

 

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